Teisho von Charlotte Sei On zum Bogensonntag, Blankenbach 14.07.2024
Ich möchte Euch heute ein Haiku des japanischen Samurai und Dichters Mizuta Masahide nahebringen. Er hat von 1657 bis 1723 in Japan gelebt und war Schüler des berühmten Haiku-Dichters Basho.
Ein Haiku ist ein traditionelles japanisches Gedicht. Man sagt, mit seinen drei Zeilen mit 5 – 7 – 5 Silben, ist es die kürzeste Gedichtform der Welt. (Wobei die Silbenzahl in der deutschen Übersetzung der japanischen nicht immer entsprechen kann.)
Entscheidend bei einem Haiku ist die Konkretheit, der Bezug zur aktuellen Gegenwart. Der Text zeigt die Momentaufnahme einer Situation. Er ist dabei aber so angelegt, dass er gedanklich erst im Erleben des Lesers oder der Leserin vervollständigt wird.
Hier also das Haiku von Mizuta Masahide:
„Die Hütte ist abgebrannt –
Jetzt sehe ich den klaren Mond.“
Krass, oder? Mein erster Gedanke: Das muss ein echter Buddha sein, den nichts aus dem Gleichgewicht bringt. Stell Dir vor: Du kommst nach Hause und Dein Haus ist abgebrannt… Du gehst hinein, steigst über die Trümmer, um vielleicht noch irgendetwas zu retten…
Und – plötzlich – siehst Du den klaren, nicht durch Dach oder Wände verstellten „Mond“. Dieser Erfahrungsmoment ist so stark, dass das Elend des abgebrannten Hauses völlig in den Hintergrund tritt.
Wenn man das Haiku nun nicht wörtlich nimmt, sondern es als Sinnbild für etwas betrachtet, dann sieht die Sache – natürlich – anders aus.
Wir können uns zunächst fragen: Wofür steht die „Hütte“?
„Hütte“ oder „Haus“ sind in unserem Verständnis Begriffe, die für Sicherheit, Geborgenheit, Schutz, Heimat, Verbundenheit usw. stehen. Und damit auch für Dauerhaftigkeit.
Aber: Eine Hütte, ein Haus kann abbrennen oder in Wasserfluten untergehen kann – was man inzwischen ja immer öfter auch in Deutschland sehen und erfahren kann. Allein dieses Beispiel zeigt: Die von uns angestrebte Sicherheit, Geborgenheit, das Zuhausesein gibt es in unserem Leben – wenn überhaupt – allenfalls vorübergehend.
Das Haiku will uns zeigen: Sicherheit ist eine Illusion, solange wir diese Dinge im Materiellen, in Besitz, Status, eben als Dach über dem Kopf suchen.
Und solange wir der Illusion von Dauerhaftigkeit „hinterherlaufen“ werden wir leiden. Auch wenn wir im tiefsten Innern von der Vergänglichkeit aller Dinge, auch von unserer eigenen Vergänglichkeit, wissen; dieses Wissen aber immer wieder verdrängen.
Zu erkennen, dass Geborgenheit und Sicherheit immer nur vorübergehend sind, ein fragiles Gebilde, dass von unzähligen Ereignissen in unserem Leben beeinflusst wird …. Das ist die Befreiung von einer Illusion.
Und das ist, so will es uns das Haiku deutlich machen, nicht etwa eine beängstigende Erfahrung von Schutzlosigkeit, sondern eine wirkliche Befreiung.
Und diese Erfahrung des Freiwerdens von der „Illusion von Dauerhaftigkeit“ in unserem Leben, „öffnet das „Dach unserer Hütte“ und lässt uns den „klaren Mond“ sehen.
Im Buddhismus spielt der Mond eine wichtige Rolle. Steht er doch für das Erwachen, die Erleuchtung.
Man kann sich jetzt vielleicht fragen. Warum eigentlich der Mond – und nicht die Sonne, die doch viel heller strahlt?
Wie wir wissen, hat der Mond kein eigenes Licht. Er wird bestrahlt von der Sonne, er reflektiert das Licht der Sonne.
Und genau so steht ein erwachter Mensch in der Welt. Er spiegelt alles, was ihm begegnet, ohne eigenes Zutun, ohne eigenes Wollen, ohne Beurteilung, wie richtig oder falsch, gut oder schlecht. Er versucht nicht, das Leben – sein Leben und das anderer Menschen – nach seinen Wünschen, seinen Vorstellungen zu formen, zu beeinflussen und zu manipulieren.
Der erwachte Mensch – für den der Mond das Sinnbild ist – strömt im und mit dem Fluss des Lebens. Er bildet kein Hindernis und keinen Widerstand, gegen das, was ihm begegnet.
So, wie der Mond – und natürlich auch alle anderen Planeten, Sonnen, Gestirne im Kosmos – ihren natürlichen Weg gehen. Der Mond will nicht Sonne sein oder Erde. So wie wir so gerne anders wären, größer, schöner, reicher usw.
Hier regt sich jetzt sicher Protest: Ich kann doch nicht alles einfach hinnehmen, Ungerechtigkeit in der Welt, Hunger, Kriege usw.
Auf unsere abgebrannte Hütte bezogen: Heißt das, wir sollen sie nicht wieder aufbauen? Sondern uns still und genügsam den Unbilden des Wetters aussetzen, um uns am sichtbaren Mond zu erfreuen?
Wenn wir ein Dach über dem Kopf haben wollen, Regen- und Kälteschutz, dann sollten wir unsere Hütte natürlich wieder aufbauen. Wenn wir krank sind, sollten wir Medikamente nehmen. Und wenn wir etwas gegen den Hunger in der Welt tun können, dann tun wir das selbstverständlich.
Dem Leben seinen Lauf zu lassen, im Fluss des Lebens zu sein, ist nicht zu verstehen als „einfach alles laufen zu lassen“.
Was wir allerdings bedenkenlos „laufen lassen“, loslassen können, sind unsere Anhaftungen, unsere Wünsche und Vorstellungen, die wir über uns und andere haben, und alle Erwartungen an das Leben und was es bringen soll. Und auch alle Ängste und Befürchtungen, dass uns das Leben etwas bringen könnte, was wir nicht haben wollen.
All das ist Ausdruck unseres Denkens, unseres Egos. Und sobald wir „denken“, sind wir nicht im Sein. Sobald wir denken, etwas in Worte fassen, sind wir nicht mehr in der Situation, in der Erfahrung dieses Moments, in diesem blitzschnell vorübergehenden Augenblick …. und damit auch nicht in der Gegenwart, im Jetzt, in der Wirklichkeit.
Der japanische, 1998 gestorbene Zen-Meister Kosho Uchiyama beschreibt das sehr einfach und klar:
„Die Kluft, durch die ein Gedanke von der unmittelbar en vorliegenden Tatsache getrennt ist, hindert uns daran, das Leben zu sehen, wie es wirklich ist.“
Wir hören einen Vogel singen. Und praktisch im gleichen Augenblick sagt unser Geist: „Eine Amsel! Wie schön!“ Oder: „Eine Krähe! Was für ein hässliches Krächzen.“
Aber die Erfahrung des wirklichen, des „reinen Hörens“ ist in dem Moment zu Ende, in dem sich unser Kopf einschaltet, ein Gedanke entsteht und wir dem „Ding“ einen Namen geben. Und vor allem auch, indem wir – was ebenfalls automatisch passiert – den Gesang beurteilen als „schön“ oder als „nicht schön“!
„Nur Hören“, die Erfahrung des „unkommentierten“ Wahrnehmens – schenkt uns eine – unbedingte – Freude, ein Glück, das allein dadurch entsteht, dass wir in dem Moment tatsächlich eins sind mit dem, was jetzt gerade ist. Es gibt keine Trennung mehr zwischen mir und dem, was ich wahrnehme. Das gleiche gilt natürlich auch für die anderen Sinneserfahrungen…. Sehen, Schmecken, Fühlen, Riechen.
Das Haiku macht also deutlich: „Unsere Hütte“ ist bis unters Dach mit all unseren Vorstellungen, Meinungen, Erwartungen, Wünschen usw. angefüllt.
Wenn es abgebrannt ist, wenn wir also alles losgelassen haben, nicht mehr hängen an dem, was einmal war, oder Ausschau halten, nach dem, was – vielleicht – kommt …. dann erscheint der klare Mond.
Wir sehen dann die Wirklichkeit, wie sie ist, nicht eingefärbt durch unsere persönliche Sicht. Wir reflektieren sie nur – so wie der Mond das Sonnenlicht reflektiert.
Die Frage, die sich jetzt natürlich stellt, ist: Wie schaffe wir es, die immer und automatisch auftretenden Gedanken, und das ebenso automatische Beurteilen all dessen, was uns begegnet, zu beenden?
Die Übung des Sensory Awareness ist hier eine besonders gute Hilfe und auch Dogen Zenjii, der berühmte japanische Zen-Meister des 13. Jahrhunderts, gibt eine Antwort, sogar eine ganz konkrete „Arbeitsanweisung“. Nicht nur, aber vor allem für unsere Meditationsübung:
„Wann immer ein Gedanke auftaucht,
sei Dir dessen bewusst.
Und sobald Du Dir dessen bewusst bist,
wird er verschwinden.
Wenn Du für eine lange Zeit alle Objekte (des Geistes, also die Gedanken) vergisst,
so wirst Du ganz natürlich eins werden.
Dies ist die grundlegende Kunst des Zen.“
Und ich ergänze: Dies ist die wahre Freude des Lebens!