Die unmittelbare Erfahrung dessen, was im Moment ist
Sensory Awarenes-Lehrer Stefan Laeng im Gespräch mit Christina Lehnherr, ehemalige Äbtissin des San Francisco Zen Centers.
Stefan: Uns verbindet auf der einen Seite, dass wir eine starke Verbindung sowohl mit dem Buddhismus als auch mit Sensory Awareness haben. Dazu kommt aber noch, dass wir beide vor vielen Jahren aus der Schweiz in die USA ausgewandert sind, weil uns etwas wichtiger wurde, als die Bindung an die Heimat. Uns hat eine andere Art von Heimat unwiderstehlich angezogen.
Christina: Ich begann so ab 1982 mit Charlotte Selver in der Schweiz und in Deutschland zu arbeiten. Ihre Arbeit, Sensory Awareness, ist für mich eine Ergänzung zum dem, worauf der Zen Buddhismus aus ist: unmittelbare Erfahrung dessen, was im Moment ist. Es ist einfach eine andere Vorgehensweise, ein anderer Weg zum selben Ziel und ich mag die Körperlichkeit von Sensory Awareness. Sie korrespondiert auch damit, dass unsere Biografie, unsere innere und äußere Konditionierung, unsere Gewohnheiten, im Körper gespiegelt werden. Du wirst Dich an Charlottes Anweisungen erinnern: “Kommt vom Stehen zum Sitzen, zum Liegen. Wie begleitet Euch die Schwerkraft dabei?” Da zeigte sich immer sofort, wenn ich mich verspannte und dass das alte Gewohnheiten waren. Wohl konnte ich diese Verspannungen nicht einfach loslassen aber das Wahrnehmen hat sie mit der Zeit gelöst.
Manchmal stellte sie auch diese Frage, die ich nicht ausstehen konnte. Mitten im Probieren sagte sie dann: “Wo will es hin?”. Die Frage brachte mich jedesmal völlig aus der Fassung. Ich geriet in eine Panik, hatte keine Empfindungen mehr, keine Gedanken. Ich spüre das heute noch. Wenn ich daran denke, überlaufen mich Schauer.
Stefan: Weshalb? Weil es keine intellektuelle Antwort darauf gibt?
Christina: Nein. Ich hatte gelernt, nicht mehr zu wissen, wohin es wollte, weil ich dann als Kind immer in Schwierigkeiten kam. Deshalb war das die gefährlichste Frage und es war gefährlich, das zu wissen. Dahinter stand die Überzeugung dass, wenn es dahin ginge, wo es wollte, herauskäme, dass ich ein widerliches, abscheuliches, schreckliches Kind bin, das man absolut nicht lieben kann. Ich wusste damals bei Charlotte nicht, das es so schlimm stand mit mir, glaube aber, dass ich deshalb immer wieder zu ihr ging. Ich wusste, dass da etwas war, hätte aber nicht sagen können, was. Ihre Vorgehensweise war subversiv.
Stefan: Subversiv?
Christina: Ja, sie unterlief meine gewohnte Art meine Welt zu ordnen. Die Antwort war nicht im Kopf sondern im Körper. Und meinem Körper habe ich nicht getraut.
Stefan: Du gingst dann auch in eine 3-monatige Study Group nach Kalifornien. Wann war das?
Christina: Ich ging drei Mal hin. Das erste Mal 1988. Ich wäre wohl nicht nur wegen Charlotte gegangen. Ich wollte auch meine Zen-Praxis wieder aufnehmen und da die Study Group auf der Green Gulch Farm des San Francisco Zen Center’s war, hat mich das auch angezogen. Weder das Eine noch das Andere alleine hätte mich dahin gebracht aber beides zusammen war die perfekte Kombination. Ich ging also, nahm so oft ich konnte auch am Klosterleben teil – und blieb dann unerwartet gleich für ein ganzes Jahr im Zen Center. Weisst Du, vor Allem in den ersten zwei Study Groups gab mir ihre Arbeit oft einen direkten Zugang zu den “Chants” und zu den Lehren des Buddha. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen: Ich kam eines Morgens in einer total miesen Stimmung zum Kurs. Ich war schrecklich genervt, worüber weiß ich nicht mehr. Und plötzlich hatte ich dieses Erlebnis. Es war total wortlos, reine Empfindung, die ich nur versuchsweise in Worte fassen kann: Ich fand mich plötzlich ganz tief in der gegebenen Aufgabe. Das führte zu Erfahrung, was zu weiterer Erfahrung führte und so weiter und so weiter, ohne Ende. Und da war einfach kein Raum und kein Grund für Ärger. Aber sobald ich das bemerkte, flippte etwas in mir aus und begann sich mit Händen und Füssen an meiner miesen Stimmung festzuhalten. Da verstand ich, was damit gemeint war, wenn die Lehre von diesem imaginären Selbst sprach, das wir uns erschaffen und dann ‘Ich’ nennen, dieses Selbst welches dann alles und alle danach beurteilt, was es für mich tut oder nicht tut. Und wie schnell das geschieht (schnippt mit den Fingern), dieses Identifizieren und Anhaften.
Ich stand da und erlebte all dies, amüsiert und mitfühlend zugleich, und dachte: “Ach, so geht das!” Und ich dachte, wie dumm, aber ohne Wertung, einfach erstaunt. So wie man einem kleinen Kind zusieht, das etwas unmögliches versucht und dann nochmal versucht und nochmal. Das habe ich nie vergessen und so oft, wenn ich mit ihr gearbeitet habe, habe ich sozusagen am lebendigen Leibe erlebt, worauf die Lehre zielt.
Stefan: Ein schönes Erlebnis.
Christina: Es war ein großes Geschenk. Ich kann es immer noch fühlen, kann es wieder wachrufen. Es war so klar, ohne Frage.
Stefan: Und wie ging es dann weiter in der Stunde?
Christina: Na ja, ich arbeitete weiter aber nun verstand ich, worum es ging, was die Lehre meint, wie Sensory Awareness uns auf dem Weg hilft. In diesem Sinne sehe ich Sensory Awareness und Zen als sehr verbunden. Zen ist ein sehr körperlicher Ansatz, ein Sinnes-Erleben. Ich lerne nicht besonders gut durch Lesen oder Denken. Ich muss erst erleben, dann erst verstehe ich: ach, so haben sie das in Worte gefasst! In diesem Sinne ist Charlottes Vorgehensweise Teil meines Lebens geworden, war es vielleicht schon immer gewesen.
Stefan: Damit hast du jetzt vielleicht schon eine meiner Fragen beantwortet, nämlich, wie Sensory Awareness und Zen zusammenpassen. Für Außenstehende sehen die Beiden sehr verschieden aus: Im Zen dominieren Form und Struktur und das ist so ganz anders mit Sensory Awareness.
Christina: Und doch hat Charlotte unsere Stunden mit stillem Sitzen begonnen. Sie hat eine Glocke geläutet. Wir durften das Wort “Übung” nie in den Mund nehmen.
Stefan: Oder “Körper”!
Christina: Körper, ja. Und “Normal”.
Stefan: Und stundenlang hat sie uns dazu aufgefordert, vom Sitzen zum Stehen zu kommen. Es war wie tägliches Zazen, man praktizierte, egal ob man saß oder ging. Ich glaube auch, dass es nichts gibt, das nicht Form hat.
Christina: Und natürlich ist nichts nur Form, es ist auch leer. Für mich zielen beide Lehren auf dasselbe – und ich denke, dass gilt auch für das Christentum, den Islam, das Judentum – wie die Speichen eines Rades führen sie zum Sein. Zu einem Leben, das nicht von unseren Vorstellungen begrenzt ist, von Ideen über uns, von Geschichten, die wir uns erzählen, zu was wir fähig sind oder nicht fähig sind, wie wir die Welt kontrollieren müssen, um in Sicherheit zu leben. Wir können diese Fallen nicht vermeiden, sie gehören wohl zum Erwachsenwerden. Deshalb heißt es in der Bibel auch: “Ihr sollt wie die Kinder werden.” Es heißt nicht, wir sollen Kinder bleiben. Wenn wir Kinder blieben, könnten wir uns nicht in dieser Welt zurechtfinden. Aber wir müssen dahin zurückfinden, wie Kinder zu erleben, direkt, ungefiltert. Ich glaube, das war Charlottes Ziel, und das ist das Ziel des Buddhismus – und bestimmt aller mystischen Richtungen. Nur die Formen sind verschieden.
Am Ende sind wir aber wohl gar nicht so frei in der Wahl der Form. Sie muss passen. Ich habe diese Tendenz zu Strenge und Disziplin und wie ich zum Zen kam, dachte ich erst, dass es vielleicht gar nicht das Beste für mich war und diese Tendenz nur verstärken würde. Aber die Einfachheit und Klarheit von Zen öffnet mich innerlich, ich werde lebendig. Die strikten Formen geben Raum für das Weiche in mir. Ähnlich geht es mir in romanischen Kirchen. Die strenge Architektur gibt mir Raum. Wir sollten uns von den Formen nicht irreführen lassen. Wir müssen die uns passenden finden. Sie dürfen die Arbeit nicht schwieriger machen, sondern sollen sie unterstützen. Wenn wir unsere Energie an unpassenden Formen verausgaben, können wir die innere Arbeit nicht tun.
Stefan: Das ist schön gesagt. Der Lebensweg muss erfahrend gefunden werden. Ich weiß nicht, ob ich dafür die richtigen Worte finde. Die richtigen Entscheidungen können nicht einfach mit Denken gefällt werden, wir müssen sie sozusagen ertasten. Das erinnert mich an die Zeit, als ich für Charlotte sorgte. Ich ging zu Marion Rosen in eine “Behandlung”. Sie tastete meinen Rücken ab und sagte dann plötzlich: “Weißt Du, Du bist kein Mönch. Du gibst Dir zwar sehr Mühe, bist aber keiner. Wenn Dir das liegen würde, müsstest Du Dich nicht so aufrecht halten im Sitzen. Dann wärst du aufrecht.” Das hat mich damals sehr beeindruckt. Bis heute habe ich diese zwei Seiten in mir, den Mönch und den “Haushälter”. Ich denke, ich sollte ein Mönch sein, bin es aber nicht. Das konnte sie sofort in meinen Geweben spüren. Da gibt es diese Spannung zwischen dem, wie ich denke, wie ich sein sollte und wie das Leben will, dass ich bin.
Christina: Ja, wo will es hin, ist die Frage.
Stefan: Ja, und ich fürchte mich vor der Antwort.
Christina: Vielleicht will es nicht, wie Du willst.
Stefan: Oder wie ich denke, dass ich sollte.
Christina: Aber wenn Du diesen Widerspruch in Dir trägst, dann interessiert mich die Frage: Wie kann ein Mönch in der Welt leben? Anstatt zu sagen: “Ich bin eben kein Mönch”, stellt sich die Frage, wie gestaltet ein Mönch ein Leben als “Haushälter”. Du bist bestimmt beides.
Stefan: Das stimmt.
Christina: Ein Mönchsleben muss nicht so aussehen, wie Du denkst. Ich glaube, dass wir in einer Weise alle Mönche sind, die meisten wissen es nur nicht. Ich meine damit, dass wir eigentlich alle ein einsames Leben führen, das niemand mit uns teilt. Wie Kodo Sawaki sehr ungeschminkt sagte: Du kannst nicht für jemand anderen furzen. Rilke sagte es poetischer: “Was Not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit. In-sich-gehen und stundenlang niemandem begegnen – das muß man erreichen können”. Was er auch sagt, und das ist die andere Seite der Medaille, dass jemanden zu lieben das schwierigste in der Welt ist. Und über’s Zusammenleben sagt er, dass “die gute Ehe die ist, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat.”
Das vollständige Interview, das im Rahmen von Stefans “Charlotte Selver Oral History and Book Project” am 18. April 2011 in Mill Valley, California, geführt wurde, kann in englischer Sprache auf dieser Webseite angehört werden.
Kiku Christina Lehnherr war Äbtissin von San Francisco Zen Center’s City Center von 2012 bis 2014. In ihrem Herkunftsland, der Schweiz, arbeitete sie als ausgebildete Physiotherapeutin und Klinische Psychologin. Als Schülerin von Tenshin Reb Anderson wurde sie 1993 zur Priesterin ordiniert und erhielt 2005 von im die Dharma-Übertragung. Mit Charlotte Selver studierte sie Sensory Awareness seit 1982 und wurde von ihr als Lehrerin (Leader) autorisiert. Sie lebt und lehrt heute in Marin County in Kalifornien.
Stefan Laeng praktiziert Sensory Awareness und verwandte Arbeiten seit 1980. Er studierte mit LehrerInnen in der Schweiz und den USA. Mit Charlotte Selver arbeitete er von 1991 bis zu ihrem Tod 2003 intensiv zusammen, als Schüler wie auch in gemeinsamen Kursen. Er erhielt von ihr 1996 die Lehrberechtigung. Buddhistische Meditation und Philosophie bilden seit den frühen 80er Jahren eine Grundlage seiner Arbeit und seines Lebens. Er ist Executive Manager der Sensory Awareness Foundation und bietet sowohl Einzel- als auch Gruppenunterricht und Workshops an. Er arbeitet zur Zeit an einem Oral History und Buchprojekt über Leben und Wirken von Charlotte Selver. Stefan lebt in Hancock, New Hampshire, USA.
Web Site: www.pathwaysofsensoryawareness.com
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